Laut internationalen Studien sind zumindest 22 Millionen Menschen weltweit von Zwangsverheiratung betroffen, davon neun Millionen Kinder. Auch in Österreich kommt das Phänomen Zwangsheirat vor – im Inland und auch bei Ehen, die bereits im Ausland geschlossen wurden. Das tatsächliche Ausmaß dieser gravierenden Menschenrechtsverletzung blieb bisher jedoch weitgehend unbekannt. Zwangsverheiratungen werden häufig im persönlichen Lebensbereich vorbereitet und durchgeführt, mit vielfältigen Abhängigkeitsverhältnissen, was Erfassung, Opferschutz und Strafverfolgung erschwert.
Das Projekt FORMA (Forced Marriage, 2023/24) hat nun einen erstmaligen Lagebericht zu Zwangsverheiratung in Österreich erarbeitet. Im Auftrag des Bundesministeriums für Inneres und der Frauen- und Gleichstellungssektion im Bundeskanzleramt wurde das Projekt mit Vertreter*innen des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte, der Universität Wien, des Vereins Orient Express sowie der Rechtsberatung der Caritas der Erzdiözese Wien umgesetzt, mit finanzieller Unterstützung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).
„Am Anfang unserer Arbeit war schnell klar, dass zum Thema Zwangsverheiratungen in Österreich wenig Datenmaterial vorhanden ist. Jene Daten, auf die wir zurückgreifen konnten – etwa aus der Kriminalstatistik, aus Akten und Gerichtsentscheidungen, waren zudem häufig auf Teilbereiche beschränkt, was die Aussagekraft und die Ableitung von zielgerichteten Maßnahmen erschwerte,“ erklärt Maryam Alemi von der Rechtsberatung der Caritas der Erzdiözese Wien, die das Forschungsprojekt FORMA leitet. Das Projekt orientierte sich an internationalen Standards sowie aktuellen strafrechtlichen, zivilrechtlichen und fremdenrechtlichen Rahmenbedingungen. Um die Praxissituation zu erheben, wurden qualitative Interviews mit Expert*innen verschiedener Stakeholder – von NGOs über Behörden bis zu internationalen Organisationen – und mit Betroffenen geführt, rund 370 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts analysiert und 129 Akten der Frauenberatungsstelle Orient Express ausgewertet. In 70 Prozent der untersuchten Fälle von Orient Express – der Verein richtet sich an Frauen bei familiären und partnerschaftlichen Problemen, Gewalt und Missbrauch sowie Verwandtschaftsgewalt und beobachtet das Phänomen schon lange – waren Personen von Zwangsheirat bedroht oder betroffen. In allen Fällen haben Betroffene psychische Gewalt erlebt, in 90 Prozent der Fälle kam es auch zu physischer Gewalt. So auch im Fall einer 17-jährigen Betroffenen, die von ihren Eltern zwangsverlobt wurde, als diese von einer heimlichen Beziehung erfuhren. Die junge Frau erfuhr massive physische und psychische Gewalt von ihrem Verlobten und der eigenen Familie. Mithilfe ihres Freundes und der Kinder- und Jugendhilfe gelang ihr schließlich die Flucht in eine Schutzeinrichtung, nur wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit.
Systematische Datenerhebung, Zusammenarbeit und Ausbau von Angeboten nötig
Nach eineinhalb Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema, wurden bei der heutigen Abschlusskonferenz Studienergebnisse und Empfehlungen präsentiert. Als Präventivmaßnahme brauche es vor allem mehr Aufklärung und Bewusstseinsarbeit, insbesondere bei jungen Menschen. Um Rückschlüsse ziehen zu können, wie weit das Phänomen in der Gesellschaft verbreitet ist, fordert das Projektteam ein genaues Monitoring und bessere Datenerhebung. Helmut Sax vom Ludwig Boltzmann Institut: „Wir würden uns eine systematische Erhebung gendersensibler Daten und Statistiken zu Verdachtsfällen von Zwangsheirat wünschen. Diese wären eine wichtige Grundlage für eine regelmäßige Berichterstellung sowie unabhängiges Monitoring von Fortschritten bei der Umsetzung diverser Maßnahmen.“ Das Projektteam erachtet darüber hinaus eine verstärkte Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen und Schulen als wichtigen Schritt. „In Übereinstimmung mit internationalen menschenrechtlichen Standards empfehlen wir auch dringend, das Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre anzuheben und Beratungsangebote für Ehekandidat*innen auszubauen, damit sie mehr über rechtliche Gegebenheiten erfahren“, betont Sax.
Besondere Herausforderungen ortet das Projektteam in der Identifikation von Betroffenen, da sie aufgrund von fehlendem Bewusstsein und Scham oft zögern, Hilfe zu suchen oder gar Anzeige zu erstatten. „Ein wesentliches Element, um Betroffene zu identifizieren und zu schützen, ist eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen mit unterschiedlichen Akteur*innen wie Jugend- und Sozialarbeit, Strafverfolgung und Justiz, Behörden und dem Gesundheitswesen“, so Projektleiterin Maryam Alemi. Zudem sei ein bundesweiter Ausbau von niederschwelligen Anlaufstellen zentral, wo mehrsprachige psychosoziale Beratung angeboten werden kann. Idealerweise sollen Betroffene auch verstärkt die Möglichkeit erhalten, Unterstützungsangebote aktiv mitzugestalten.
„Wir freuen uns, dass wir durch unsere Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Zwangsehen in Österreich leisten konnten. Entscheidungsträger*innen können damit nun evidenzbasierte Maßnahmen zur Unterstützung von Betroffenen auf den Weg bringen“, so das Forschungsteam, bestehend aus
Helmut Sax, Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte
Katharina Beclin, Universität Wien – Institut für Strafrecht und Kriminologie
Najwa Duzdar und Rebecca Hof, Verein Orient Express
Maryam Alemi und Claudia Neururer, Caritas Wien Rechtsberatung
Der vollständige Endbericht wird Anfang Juli veröffentlicht.